Die Griechisch-Orthodoxe Kirche von Mersin hat seit dem 6. Februar, als die Erdbeben begannen, den Opfern, die aus Antakya und Umgebung kamen, Unterkunft angeboten. Zuerst wurden die Gästehäuser der Kirche genutzt, später wurde das Innere der Kirche zu einem Schlafsaal umgebaut. Darüber hinaus wurde von der Kirche in Mersin mehrere Hilfeleistungen für die Region organisiert. Wir haben mit dem Vorsitzenden der Mersin Griechisch-Orthodoxen Kirchengemeinde, Can Arap, darüber gesprochen, wie das Erdbeben in Mersin gespürt wurde und welche Hilfsaktivitäten von der Kirche durchgeführt wurden.
Interview: Ferit Yuhanna Tekbaş
Herr Arap, zunächst einmal möchte ich mein Beileid ausdrücken. Bevor ich frage, was Sie nach dem Erdbeben getan haben, möchte ich wissen, wie Sie das Erdbeben erlebt haben. Wurde es auch in Mersin stark gespürt?
Man kann ein Erdbeben nicht verstehen, ohne es erlebt zu haben!!! Durch meinen früheren Beruf bin ich viel gereist und habe in Hotels in Malatya und Elazığ viele Erdbeben miterlebt. Ich erinnere mich, dass ich oft aus meinem Hotelzimmer geflüchtet bin. Dieses Beben jedoch war anders und selbst in Mersin spürte man es auf eine schockierende Art und Weise. Erst bebte das Bett, dann begann das Gebäude zu wackeln, so stark, dass wir keine Chance hatten zu laufen, darum legten wir uns in die Türschwelle, meine Frau über unsere kleine Tochter und ich über unsere große Tochter gebeugt, um sie zu schützen. Wir dachten alle: „Jetzt ist es vorbei!“. Es ist fast unmöglich zu verstehen was die Menschen in den stark betroffenen Provinzen gesehen und erlebt haben. Es ist sehr schwer zu verstehen, wenn man es nicht gesehen und erlebt hat. Ich persönlich habe in der Griechisch-Orthodoxen Kirche von Mersin viel mit den Erdbebenopfern geweint, die aus dem Erdbebengebiet nach Mersin gekommen sind. Ich konnte sie nicht verstehen, aber vielleicht habe ich ihnen durch das gemeinsame Weinen Erleichterung verschafft… Auch wenn es nur ein kleines bisschen war… Wir, d.h. jeder Freiwillige, jedes Mitglied der Griechisch-Orthodoxen Kirche von Mersin, hat seine Seele eingesetzt, um den Erdbebenopfern in diesem Prozess zu helfen.
Sogar in Mersin, das nicht vom Erdbeben verwüstet wurde, herrschte eine große Panik. Alle nahmen ihre Familien mit und strömten in die Autos oder auf freie Flächen. Ich brauchte 45-50 Minuten, um zum Haus meiner Mutter zu gelangen, zu dem ich normalerweise in 3-4 Minuten fahre. Ich wollte sie abholen und zu meinen Kindern zurückkehren, aber als der Verkehr dies nicht zuließ, kam ich mit meiner Mutter zu unserer Kirche. Ich erkannte, dass die Menschen in die Kirche kamen, weil sie ein offener Raum war, also lud ich die Menschen in meiner Umgebung/Gemeinde in die Kirche ein. So kamen in den frühen Morgenstunden die meisten von uns in der griechisch-orthodoxen Kirche von Mersin zusammen.
Der Kirchhof wurde in den ersten Momenten des Erdbebens zu einem Sammelpunkt. Wie ist es passiert?
Am Abend des 6. und 7. Februars waren mindestens 150-200 von uns in unserer Kirche. In dieser Umgebung waren unsere Freunde, Nachbarn, die Bewohner der umliegenden Gebäude, kurz gesagt, Christen und Muslime, alle zusammen. Für alle wurde eine Suppe serviert. Da sich der Saal unserer Kirche im Erdgeschoss befindet und man davon ausging, dass er im Falle eines Nachbebens leicht zu evakuieren wäre, zogen es alle vor, in unserem Saal zu bleiben. Aufgrund der Stärke des Erdbebens herrschte unter den Menschen ein großes Gefühl der Angst und Panik, und es dauerte Tage, bis wir uns psychologisch von dem Schock des Ereignisses erholt hatten…
Am Tag vor dem Erdbeben waren die Vorsitzenden und die Väter der orthodoxen Kirchen von Antakya, Iskenderun und Mersin nach Beirut gereist, um Seine Seligkeit Patriarch Johannes X., den Patriarchen von Antiochien und dem gesamten Osten, zu besuchen. Ihr Rückflug erfolgte am Tag des Erdbebens, drei Stunden vor dem Erdbeben… Nach dem Ereignis gab es ernsthafte Probleme bei dem Versuch, die Leiter der Gemeinden in Antakya und Iskenderun zu erreichen, die am stärksten von dem Erdbeben betroffen waren und große Zerstörungen erlitten. Diese Situation löste in der Gemeinde Mersin große Besorgnis aus. Von unseren Brüdern und Schwestern in Hatay konnten wir keine Informationen erhalten, da die Presse über andere Provinzen berichtete, z. B. wurde zwei Tage lang viel über die 20 eingestürzten Gebäude in Adana gesprochen, während Hatay fast nie erwähnt wurde. Damit soll der Schmerz über unsere Verluste in Adana nicht verharmlost werden. Jeder Verlust ist groß und irreparabel.
Welche Arten von Hilfeleistungen hat die Griechisch-Orthodoxe Kirche von Mersin geleistet? Waren es nur Christen die von diesen Hilfen profitiert haben?
Aufgrund der Informationen, die wir aus den Regionen, die wir erreichen konnten, und aus den Nachrichten erhielten, dachten wir, dass wir auf die Hilferufe reagieren und die Regionen, die große Zerstörungen erleben, unterstützen sollten, und wir wurden aktiv, einschließlich der Frauengruppe und des Jugendausschusses der Gemeinde. Die griechisch-orthodoxe Gemeinde von Mersin mobilisierte sich sofort und eilte zu ihren Brüdern und Schwestern in Hatay, egal ob es sich um Kinder, Jugendliche, Erwachsene oder ältere Menschen handelte.
Noch bevor wir als Gemeinde dazu aufgerufen hatten, strömten die Mitglieder unserer Kirche mit Hilfsgütern, materieller und moralischer Hilfe herbei, als gäbe es kein Morgen. Auch unsere Nachbarn und das Volk in Mersin hat solidarität mit Antakya, İskenderun, Samandağ, Altınözü, Tokaçlı und Vakıflı bekundet und uns unterstützt, egal welcher Glaubensrichtung sie entstammten. Das schöne Mersin war das beste Beispiel für Solidarität und stand uns mit seiner Stadtverwaltung, seinen zivilen Organisationen und anderen Einrichtungen zur Seite. Es war Zeit für Solidarität, und das haben wir in Mersin erreicht.
Trotz der Gerüchte über Plünderungen gingen wir das Risiko ein und fuhren 15-16 Stunden mit unseren Privatwagen, eine Strecke die eigentlich 3-4 Stunden dauert. Wir füllten die Spenden aus unserer Gemeinde in unsere Autos und lieferten sie an die Hilfsbedürftigen. Unsere Priorität waren Grundnahrungsmittel wie Wasser und Brot. Die ersten 2-3 Tage vergingen auf diese Weise. Später, als der Notstand ausgerufen wurde, beantragten wir mit mir als Vorstandsvorsitzendem und İsa Şengül, dem stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden, beim Gouverneursamt die Genehmigung für die Durchfahrt der Fahrzeuge. Die Beamten des Gouverneursamtes empfingen uns sehr herzlich und wohlwollend und erteilten uns die notwendigen Genehmigungen für die Hilfe.
Das Verfahren wurde sowohl mit unseren eigenen Fahrzeugen als auch mit den von uns gemieteten Kleinbussen fortgesetzt. Der Grund, warum wir Vans und Minibusse bevorzugten, war, dass sie die Hilfstransporter auf der Straße leichter und schneller passieren konnten. Die Lastwagen blockierten die Straßen, es bildeten sich lange LKW-Schlangen.
In der Zwischenzeit gingen die Spenden in Form von gebrauchter, sauberer Kleidung, allen Arten von Lebensmitteln und Reinigungsmitteln weiter, aber das reichte nicht aus. Plötzlich kamen Spenden von unseren Freunden und zivilen Organisationen aus dem Ausland. Diese Spenden veränderten die Art und Weise, wie wir in den betroffenen Gebieten helfen konnten. Die Spenden aus dem In- und Ausland, die auf unsere offiziellen Bankkonten eingingen, brachten unsere begrenzte Hilfskraft an einen relativ wichtigen Punkt. Als wir an Finanzkraft gewannen, auch wenn diese begrenzt war, nahm unsere Hilfsvielfalt zu: Vor allem nach dem dritten Tag begannen wir, nicht nur Brot und Wasser, sondern auch Trocken- und Konservennahrung, Diesel, Benzin, Medikamente, medizinische Hilfsgüter, Campingkocher, Heizgeräte und sogar mobile Generatoren für die Leichenhalle zu schicken. Zusätzlich wurden 20 Zelte verschickt.
Wir schickten sie in die Gebiete, in denen wir orthodoxe und katholische Kirchen in Hatay haben. Alle unsere Kirchen in der Region waren zerstört worden, und nur unsere älteste Kirche, Saint Pierre, die ein Museum ist, hatte keinen Schaden genommen. Als die Lieferungen eintrafen, änderte sich die Art der Hilferufe. Die Menschen, die dort lebten, waren in Panik und baten um Hilfe, um aus dem Gebiet gerettet zu werden. Vater Pavlos wurde am zweiten Tag des Erdbebens vom Patriarchat in die Region entsandt. Obwohl seine Familie noch unter Trümmern lag, half er den Menschen, Angehörige aus den Trümmern zu bergen und bestattete die verstorbenen nach christlichem Ritus, um ihnen die letzte Ehre zu erweisen. Um mit ihm in Kontakt bleiben zu können haben wir ihm mehrere „Powerbänke“ mitgegeben, da es in dem betroffenen Gebiet immer noch keinen Strom gab.
Während die, mit Genehmigung des Gouvernements, entsandten Fahrzeuge die Hilfsgüter lieferten, begannen wir, die Menschen in unsere Region, in Sicherheit zu bringen.
Wir leisteten überall in Hatay Hilfe, nach Antakya und Samandağ begannen wir, Menschen aus Iskenderun, Altinozu, Sarilar und Tokacli nach Mersin zu ihren Brüdern und Schwestern zu verlegen. Zunächst nannten wir es eine Rettungsaktion. Ja, das war die Wahrheit, aber später korrigierten wir diesen Satz in Transfer. Zunächst verwandelten wir den Versammlungssaal unserer Kirche in ein Wohnheim. Doch nach einer Weile reichte der Platz nicht mehr aus. Wir waren zu einem Stützpunkt geworden. Wir schickten die Menschen zur Behandlung ins Krankenhaus, schickten sie zum Baden in die Therme. Wir versorgten sie mit ihren persönlichen Bedürfnissen wie Kleidung, Unterwäsche, Trainingsanzügen und Badesachen, die wir gerade für sie gekauft hatten. Außerdem sortierten wir gebrauchte Kleidung von unseren wohlwollenden Freunden und Gemeindemitgliedern aus und sortierten die sauberen und schönen Kleidungsstücke nach Geschlecht und Größe. Daraus wählten wir einfach die Materialien aus, die sie brauchten, und boten sie ihnen an. Dieser Prozess dauerte natürlich zwei oder drei Tage für jede Person. Auf Vorschlag des Gemeindevorstands und mit der Zustimmung unseres Priesters verwandelten wir das Gotteshaus in einen Schlafsaal, indem wir zusätzliche Betten, Kissen und Decken bereitstellten. Während wir insgesamt mit 50-100 Personen gerechnet hatten, meldeten sich an dem von uns eingerichteten Anmeldeschalter 750-800 Personen an…. So diente unsere Kirche sowohl als Schlafsaal als auch als Lagerraum.
Da die Tatsache, dass wir unsere Kirche geschlossen und in ein Wohnheim umgewandelt hatten, für Schlagzeilen sorgte, wurden wir in der türkischen und internationalen Presse als “Die griechisch-orthodoxe Kirche von Mersin öffnete ihre Türen für die Erdbebenopfer” bezeichnet, und zwar nicht nur für unsere christlichen Brüder und Schwestern, die Opfer des Erdbebens waren, sondern auch für unser Volk, mit dem wir dieselbe Heimat teilen Wir wollten unseren Brüdern und Schwestern im Angesicht Gottes, nicht im Angesicht der Religion helfen. Ohne Diskriminierung schliefen und aßen Christen, Muslime, Katholiken, Aleviten, Menschen verschiedener Religionen gemeinsam an einem Ort. Wir haben sie nicht fotografiert, um ihre Persönlichkeitsrechte nicht zu verletzen. Ihre Namen werden in unseren Herzen und Erinnerungen bleiben.
Parallel zu den Nachrichten in der Presse erhielten wir weiterhin viele telefonische Hilfsanfragen. Sogar die persönliche Telefonnummer des Vorstandvorsitzenden der Gemeinde wurde als “derjenige, der die Hilfe organisiert hat” verwendet. Rufen Sie ihn an und finden Sie eine Lösung” wurde landesweit in den sozialen Medien veröffentlicht, andere Mitglieder des Vorstands begannen, seine Anrufe zu beantworten, und es war sehr schwierig zu erklären, dass unsere Mittel begrenzt waren….
Gab es während dieses Prozesses Unterstützung von anderen Institutionen und Personen?
Als Kirche haben wir mit der Genehmigung und Unterstützung des Mersin System Medical Hospital kostenlose medizinische Untersuchungen für die Erdbebenopfer durchgeführt. Gleichzeitig hat das Spa Centre, das sich gegenüber unserer Kirche befindet, den Erdbebenopfern, die in unserer Kirche untergebracht sind, kostenlose Bademöglichkeiten zur Verfügung gestellt. Dafür sind wir sehr dankbar. In der Zwischenzeit haben wir durch die Suche nach Sponsoren einige der Menschen, die in unserer Kirche untergebracht sind, in Hotels und viele in Schulen untergebracht. Es gibt viele Helden: über welche soll ich schreiben? Jugendgruppen, Frauengruppen, der Besitzer des kleinen Marktes neben der Kirche, unsere Nachbarn im Nachbarhaus….Herr N.F., Herr Vedi Okur, der mit dem Flugzeug aus Deutschland kam, Herr Razik Kocamahul, der auch aus Deutschland kam…Herr Mihail Kocamahul und Herr Jason Öztoprak die aus Deutschland anriefen, Herr Fuat Demir, der aus Deutschland anrief und versuchte, Hilfe zu organisieren, indem er mich als Vorsitzenden mit 40 Personen auf dem Bildschirm zusammenbrachte, Herr Laki Vingas, der in vielen sozialen Projekten aktiv ist, A DEMAND FOR ACTION (ADFA) aus Schweden und viele weitere Helden und hilfreiche Menschen, die ich nicht aufzählen kann. Sie haben ihren Platz in der Geschichte der Menschlichkeit eingenommen. Besondere Erwähnung möchten wir auch Seiner Eminenz Metropolit Seyedna Costa und Seiner Eminenz Metropolit Seyedna Arsanyon schenken, die uns vom ersten Moment an zur Seite standen. Unsere größte Unterstützung ist natürlich Seine Heiligkeit Patriarch Johannes X., Patriarch von Antiochien und dem gesamten Osten. Er hat uns unterstützt und gesegnet.
Wie viele Erdbebenopfer haben derzeit von den Hilfsmaßnahmen der Griechisch-Orthodoxen Kirche von Mersin profitiert? Wie lange wird, Ihrer Meinung nach, dieser Bedarf anhalten?
Die Zahl der bei uns registrierten Personen liegt derzeit bei 750, aber wir schätzen, dass diese Zahl 1000 erreichen wird. Es gibt immer noch Menschen in Bezirken, die wir nicht erreichen konnten und von denen wir hören, dass sie Opfer sind. Der Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Wir befinden uns noch in der ersten Phase der Krise. Wir haben wahrscheinlich noch ein paar Jahre vor uns. Möge Jesus Christus unseren Weg erleuchten, möge unsere Gemeinschaft, unsere Gesellschaft und unser Staat stark sein, und mögen unsere Verwalter den Prozess meistern. Mit der Zeit wird sich dieses Problem entspannen. Bis es so weit ist, sollten Sie Ihre Unterstützung für die Erdbebenopfer nicht zurückhalten.